“Ich war nie sonderlich hübsch” by Louisa Lowenstein (Berlin)

Crime and Punishment July 11, 2011 23:09
CRIME AND PUNISHMENT


“Ich war nie sonderlich hübsch. Wenn es nicht immer freundlich Proteststürme
hervorrufen würde, würde ich sogar zugeben, dass ich mich hässlich finde. Alles an
mir ist etwas zu weit, zu eng, zu kurz oder zu lang und nichts scheint so wirklich
zueinander zu gehören. Als kleines Mädchen habe ich mich an meinen Türrahmen
gehängt und mir Tesafilm längs über die Nase geklebt, in der Hoffnung ich würde
länger werden und diese schon damals riesige Nase endlich ihren Wachstum
aufgeben. Sie wuchs weiter, meine Beine hingegen blieben kurz.

Heute glaube ich, dass ich auch deswegen meinen Weg eingeschlagen habe. Man
sagt, schöne Menschen hätten es leichter im Leben. Ich habe früh erkannt, dass ich
für meine Anerkennung ein wenig mehr würde tun müssen, als noch zwei Kilo bis zur
Prom Night zu verlieren. Wer konnte ich also noch sein, wenn ich nicht Die Hübsche
war? Ich war nicht dumm aber für Die Schlaue, hätte es auch nicht gereicht. Ich
entschied mich für Die Mutige.

Fünf Monate bevor ich zum ersten mal Maria kennen lernte, hatte ich meinen
zwanzigsten Geburtstag gefeiert. Noch ein Jahr blieb mir, bis ich ungestraft einen
Club habe betreten dürfen und nun bezweifelte ich bereits, ob ich es erleben würde.
Es erfordert eine gewisse Theatralik, die Mutige zu sein, man muss sich selbst immer
als  eine Johanna von Orleons sehen um seinen definierenden Mut nicht zu verlieren.
Als es anfing, schlief ich jede Nacht bei brennender Nachttischleuchte ein. Die
ausgeschnittenen Zeitungsartikel auf dem Schoß, sackte mein Kopf langsam auf die
linke Schulter, während sich der Marker aus meiner Hand löste und neonfarbene
Spuren auf meinem Laken hinterließ. In den ersten Wochen, fuhr ich immer wieder
schweißgebadet aus dem Schlaf, irgendwann nahm es ab, wurde immer seltener und
die Angst vor dem Einschlafen verschwand schließlich ganz. Heute macht es mir
mehr Angst, mit welcher Ruhe ich mein Buch zur Seite lege kann und die Augen
schließe.

Auf meinem Bett und auf dem Boden um mich herum lagen Bilder verstümmelter
Leiber. Nackte Frauenkörper mit zerschnittenem Oberleib, leeren Augenhöhlen und
gebrochenem Genick.

Nur einige Monate zuvor hatte ich das erste Mal von den Frauenmorden gehört.
Ich begann mein Volontariat bei der El Paso Times im Mai und bereits im Juni
schwappte der erste Bericht von Juarez über die Grenze, den Rio Grande, zu uns nach
El Paso, in die sicherste Stadt Nordamerikas. Elf Frauenleichen hatte man in der
Wüste unweit von Juarez gefunden.

Francine, die Redaktionssekretärin, wiegte ihren massigen Kopf zu dieser Nachricht
und murmelte „und dann ist es wieder keiner gewesen“, während sie das dritte Sachet
synthetischen Kaffeesüßer mit den Bügeln ihrer Brille in ihrer Tasse verrührte. Einen
Moment später schimpfte sie bereits wieder über das unsäglich schwüle Wetter und
fecherte sich mit dem Ausdruck der Agenturmeldung  Luft unter die fleischigen
Achseln.

Niemals hatte ich zuvor von ‘Feminicidio’ gehört, nicht in Ohio, wo ich aufgewachsen
war und nicht in New York, wo ich das College besucht hatte. Hier schien jeder so
vertraut mit derartigen Vorkommnissen, das mich das Spiel aus pflichtbewusster
Empörung gefolgt von ignoranter Gleichgültigkeit anwiderte und neugierig machte.
Wie ließ es diese Menschen in ihrer häuslichen Komfortzone derartig kalt, dass nur
wenige Kilometer entfernt, in einem anderen Land in nur 11 Jahren fast 700 junge
Mädchen einen brutalen Tod gefunden hatten. Ich fing an, mich einzulesen, alte
Times aus dem Archiv zu holen und so meine Zeit zwischen den Kaffewünschen der
Redakteure totzuschlagen. Alle waren sie jung, hübsch und und vor allem arm, keiner
der Morde schien jemals wirklich aufgeklärt worden zu sein und ein paar mutige
Journalisten wagten sogar die wenigen Festnahmen und die Vorgehensweise der
Polizei in Frage zu stellen.Ich wollte eine dieser Journalisten sein, ehrlich und
furchtlos würde ich sein.

Nadja ließ mich nicht los. Sie liegt auf einem leerstehenden Baugebiet in der Sonne
und reißt ihre braunen Augen auf. Nichts an diesem Bild erinnert an das schüchterne
Mädchen, das sie nach Aussagen ihrer Mutter war. Genau wie all die die anderen,
wurden auch ihr die die Kleider vom Leib gerissen, auch sie wurde vergewaltigt und
auch ihr hatte man die Brüste amputiert. Was mich an ihrem Anblick nicht loslässt,
was mich noch tiefer trifft als die Bilder der anderen Mädchen, ist das einzige
Kleidungsstück, das man ihr gelassen hat. Sie trägt einen Schuh, ein grünen, kleinen
Ballerina am linken Fuß. Es ist wahrscheinlich psychologisch erklärbar, geradezu
logisch, dass mich gerade Nadja mit ihrem kleinen, grünen Schuh in meinen Träume
verfolgt. Dieser grüne Ballerina macht sie auf merkwürdige Weise lebendig, ich habe
das Gefühl sie zu kennen. Ich stelle mir vor, wo sie sie gekauft hat, dass es ihre
Lieblingsschuhe waren, dass sie extra Schichten gearbeitet hat, um sie sich leisten zu
können. Ich selbst habe ein Paar Grüne Ballerinas in meinem Schrank und habe sie
seit drei Monaten nicht mehr tragen wollen.

Fünf Monate nach meinem zwanzigsten Geburtstag, drei Monate nachdem ich zum
ersten Mal von Feminicidio hörte, traf ich Maria, Nadjas Mutter.
Noch heute erinnere ich mich, wie banal ich diesen Namen in Kombination mit seiner
Trägerin fand. Eine dicke, freundliche, mexikanische Mutter namens Maria passte
nicht oder passte zu gut in meine Geschichte eines entführten Mexikanischen
Mädchens der Unterschicht. Etwas störte mich daran, dass sie Maria hieß und aussah,
als hätte ich sie auf einem Reißbrett für eben diese Geschichte entworfen.

Die Mutige musste sich mit einer Carmen in einem dunklen Winkel der Stadt treffen,
einer geheimnisvollen, wortkargen Frau, die sich stetig verängstigt über die Schulter
blickte und kurz vor Offenbarung des Rätsels Lösung das Weite suchte.
Ich schämte mich vor mir selbst, im Angesicht einer trauernden Mutter, daran zu
denken, dass sie meine Geschichte, später, wenn ich sie erfolgreich zu Papier bringen
würde, banal wirken lassen könnte.

Maria war nicht verängstigt, sie war nicht wortkarg und geheimnisvoll. Sie hatte ein
fülliges, freundliches Gesicht in dem jeder seine Mutter oder die Mutter die er sich
wünschte hätte erkennen  können. Ihre Haare hatten den satten dunklen,
mexikanischen Ton bereits verloren. Es erinnerte mich  an eine der Topfpflanzen in
der Redaktion, der Francine die welken Blätter gezupft hatte, man aber schon
absehen konnte, dass der Tot bald auch die Wurzeln erreicht haben würde.

Maria schlug seltener mit ihren Lidern als ich es gewohnt war. Sie schlug sie seltener
nieder, behielt sie jedoch einen Moment länger geschlossen als es andere Menschen
taten. Das verlieh ihr den Eindruck, sie denke über das, was sie sagte länger nach,
wählte ihre Worte bedachter. Ich hatte jedes Mal wenn sie ihr Lid senkte und wieder
langsam hob, das Gefühl sie würde versuchen einen neuen Blick auf mich zu
gewinnen, mit jedem Wimpernschlag tiefer in mich hinein zu sehen. Ich fürchtete, sie
könnte sehen, dass ich getrieben von Geltungsbedürfnis und dem schlechten
Gewissen behütet auf der anderen Seite aufgewachsen zu sein, ihre Tochter
missbrauchte um Johanna von Orleons zu werden. Dass ich bei aller aufrichtigen
Betroffenheit nicht aufhören konnte, über die Überschrift nachzudenken.
Wenn sie sprach, unterbrach sie ihre wohl einstudierte und gefasste Erzählung immer
wieder  plötzliche mit grausamen Feststellungen, die ihr ins Bewusstsein sprangen
und sie den Faden verlieren ließen.

„Am 3. April hat man ihre Leiche gefunden, erst durch eine Identifizierung durch
meinen Mann stellte sich heraus, dass es sich tatsächlich um Nadja handelte, so war
keine DNA Analyse oder sonstiges nötig“ spulte sie von ihrer vor Polizei, Anwälten
und Journalisten eingespielten Platte, bis sich plötzlich, hin und wieder ihre langsam
schließenden Lieder nicht mehr hebten und ihre Platte zu springen schien. „Sie haben
ihr während der Vergewaltigung das Genick gebrochen, das bewirkt Kontraktionen
im sterbenden Körper“ sagte sie mit geschlossenen Lidern und ich war unendlich
froh, ihr nicht in die Augen sehen zu müssen.

Später traf ich noch weitere Mütter, ich habe unschuldig Verurteilte im Gefängnis
besucht, mit der Polizei gesprochen und etwa vier Wochen nach meinem Treffen mit
Maria meine erste Morddrohung erhalten.
Ob ich tatsächlich glauben würde, mein Leben wäre auf der anderen Seite des Flußes
sicher, wenn ich mich nicht aus Dingen halten würde, die niemanden etwas angehen.
Und, ob ich mich schon einmal gefragt hätte, wie es sich anfühlt, bei lebendigem
Leibe die Brüste abgebissen zu bekommen?

Ich fragte mich, ob es schlimmer war, als auf dem Scheiterhaufen zu brennen?
Noch eineinhalb Jahre habe ich durchgehalten, mit Betroffene gesprochen und
herausgefunden, wer diese jungen Mädchen tötet und warum. Ich und andere
Journalisten haben unsere Ergebnisse der Polizei und der Regierung zukommen
lassen, wir haben Artikel geschrieben und Bücher veröffentlicht. Wir haben Wellen
der Empörung ins Rollen gebracht und sie am Ufer der Gleichgültigkeit zerschellen
sehen, im Sand der Gemütlichkeit und Sicherheit versickern.

In Mexiko ist ein Leben eines armen Mädchens nicht mehr wert als der Aufwand es
ihr zu nehmen. In Nordamerika ist es genau so viele Billigprodukte wert, wie es in
den Maquilladores, den Fabriken im Grenzgebiet herstellen kann.
Vielen ist es egal und viele haben Angst. Ich hatte Angst. Ich wollte die Welt
verändern, etwas Bedeutendes tun, wichtig sein, mutig sein und gerecht. Aber ich
hatte die Wahl mich zurück zu ziehen oder zu erfahren, was all diese Mädchen
erfahren mussten. Die Demütigung, die Schmerzen, den Scham und den Tod. Ich
habe mich für die Angst und gegen die Gerechtigkeit entschieden . Auch wenn ich
weiß, dass es andere Mutige geben wird, dass ich Nadja und Maria nicht helfen hätte
können, dass ich viel getan habe, schäme ich mich dafür, dass ich all das vergessen
will, während sie auf der anderen Seite der Grenze weiter sterben. Dafür, dass ich
froh bin, Amerikanerin zu sein.

Meine Begegnung mit Maria ist vier Jahre her, damals war Nadja bereits seit zwei
Jahren tot.

Noch heute, mehr als ein halbes Jahrzehnt, nachdem man Nadja auf dem Weg von
den Maquilladores nach Hause entführt hatte, nachdem man das verängstigte 17
jährige Mädchen in die Wüste gezerrt und mehrfach vergewaltigt hatte, sechs Jahre
nachdem man ihr während der Vergewaltigung das Genick brach und ihr
anschließend zur postumen Demütigung die Brüste vom Körper trennte, sucht Maria
nach den Schuldigen- gegen den Willen der Polizei und der Staatsanwaltschaft, die
den Fall zu den Akten gelegt haben. Selbst daraus ist er vor einiger Zeit spurlos
verschwunden.

Sie hat vor dem Polizeigebäude übernachtet, Briefe an die Regierung geschrieben
und der Presse Interviews gegeben.

Nur einmal bekam sie eine Antwort auf ihre Frage nach Gerechtigkeit. Der
bearbeitende Polizist, sagte der gebrochenen Mutter eines ermordeten Teenagers in
ihr rundes, freundliches Muttergesicht, in dem er sich geweigert haben muss, seine
eigene zu sehen: Die Untersuchungen hätten ergeben, ihre Tochter sei ohnehin ein
leichtes Mädchen mit fragwürdigen Moralvorstellungen gewesen und sei wohl von
einem Freier ‘zu hart rangenommen’ worden. „Wenn wir jedem Nuttenmord
nachgehen würden, hätten wir keine Zeit mehr für die richtigen Verbrecher“
Ich habe Bilder von Nadja gesehen und mit ihrer besten Freundin gesprochen. Alicia
erzählte mir, dass Nadja die Abendschule hatte besuchen wollen, sie hatte sich gerade
verliebt, mochte keine Äpfel trank aber gerne Apfelsaft. Mit zehn Jahren wollte sie
unentwegt Vater-Mutter-Kind spielen und unbedingt wenigstens ein einziges Mal
hinter den Zaun sehen können.

Alicia arbeitete in einem Schuhlgeschäft. Für Nadjas 17ten Geburtstag hat sie auf
einen Teil ihres Gehaltes verzichtet. Sie nahm einen Schuhkarton aus dem Lager,
besorgte ein wenig Geschenkpapier und eine pinke Schleife. Sie kann noch heute den
Moment beschreiben, an dem Nadja, die pinke Schleife löste, den Karton öffnete und
das erste Mal ihr Paar grüne Ballerinas vor dem Spiegel betrachtete.”

Comments are closed